Sichere Lebensmittelversorgung: Instrumente für mehr Resilienz und Nachhaltigkeit

Die aktuellen Krisen zeigen, dass selbst Industrieländer nicht ausreichend vor Engpässen in der Versorgung mit Nahrungsmitteln geschützt sind. Forschende vom Fraunhofer Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV entwickeln Instrumente, die den Lebensmittelsektor krisenfester machen.

Leere Supermarktregale während der Corona-Pandemie, Verknappung und Verteuerung von Lebensmitteln nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und durch Klimaveränderungen, Hitzewellen und Überschwemmungen, drohende Hungersnöte in der Welt: Die aktuellen Krisen offenbaren Schwachstellen der Nahrungsmittelversorgung. Sie treffen auf eine Ernährungslage, die global durch die wachsende Weltbevölkerung und den Klimawandel ohnehin angespannt ist. Dürre, Starkregen und andere aus der Erderwärmung resultierende Unwetter führen bereits jetzt weltweit und auch in Europa zu Ernteausfällen.

Eine garantierte Versorgung mit hochwertigen, gesundheitsfördernden Nahrungsmitteln ist systemrelevant. Doch wie wird die Lebensmittelwirtschaft resilienter, also krisenfester? Das Whitepaper »Resiliente Wertschöpfungsketten für die Lebensmittelproduktion« der Fraunhofer-Institute IPT, IME und IVV analysiert Resilienzfaktoren und gibt Handlungsempfehlungen. Außerdem haben Fraunhofer-Forschende einen Resilience Evaluator (FReE) entwickelt, mit dem Unternehmen ihre Resilienz prüfen können. Gemeinsam mit dem Fraunhofer EMI und der AFC Consulting Group hat das Fraunhofer IVV den Evaluator den Besonderheiten der Lebensmittelindustrie angepasst. Die Branche unterscheidet sich von anderen Wirtschaftszweigen vor allem darin, dass ihre Produkte anfällig gegenüber Verderbnis sowie mikrobiellen Belastungen sind. Die Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit sind dementsprechend hoch. Ganze Warenströme etwa werden ungenießbar, wenn sich Verderbniserreger oder pathogene Keime, die in der Rohware kaum nachweisbar sind, im Lauf der Wertschöpfungskette vermehren. Deswegen, aber auch bedingt durch natürliche Reife- und Verderbprozesse ist eine schnelle, reibungslose Logistik in der Lebensmittelbranche entscheidender für die Produktqualität als in vielen anderen Wirtschaftszweigen.

Saisonale und regionale Produkte im Fokus

Aus heimischen Erbsen können vegane Käsealternativen hergestellt werden
Erbsenprotein bietet eine hervorragende Basis zur Herstellung von Käsealternativen

Unter Federführung des Fraunhofer IVV arbeiten sechs Fraunhofer-Institute daran, Risiken in den Wertschöpfungsketten der Lebensmittelversorgung zu identifizieren und Lösungen zu entwerfen. Die Beteiligten betrachten verschiedene Szenarien, um Störfaktoren zu erkennen. Einige Schwachstellen lassen sich jedoch nur beheben, wenn das gegenwärtige System mit seinen global vernetzten Lieferketten grundsätzlich überdacht wird. Im Fokus des Fraunhofer IVV steht daher die Rückbesinnung auf saisonale und regionale Lebensmittel. Sie schonen zugleich die Umwelt, da sich so Transportwege, Lager- und Kühlzeiten sowie Verpackungen reduzieren.

Das Fraunhofer IVV beteiligt sich maßgeblich an der Planung des Zentrums für Biogene Wertschöpfung und Smart-Farming, einer Initiative der Fraunhofer-Gesellschaft an Standorten in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern, die unter anderem die Wertschöpfung beim regionalen Erzeuger steigern möchte. Bayrische Landwirte unterstützt das Fraunhofer IVV bereits bei der Direktvermarktung durch die rechnerische Optimierung der Logistik. Außerdem werden am Fraunhofer IVV innovative Lebensmittel aus heimischen Ressourcen entwickelt, zum Beispiel Käse aus Rapsöl und Erbsenprotein.

Resilienter wird die Lebensmittelwirtschaft auch, wenn sie ihre Rohstoffe effizienter nutzt und die Verschwendung stoppt. Ungewöhnlich geformte Äpfeln und andere Früchte jenseits der Norm gelangen üblicherweise nicht in den Handel. Mit einem am Fraunhofer IVV entwickelten Mikrowellenvakuumverfahren lassen sich daraus knusprige gesunde Snacks herstellen.

Qualitätsmonitoring mit Sensoren und digitalen Zwillingen

Weinanalytik mittels Low-Cost-Chemosensorik

Lebensmittelverluste vermeiden wollen die Forschenden vom Fraunhofer IVV zudem mit Sensoren, die verlässliche Aussagen zu Qualität und Haltbarkeit liefern. Die Daten werden digital erfasst und dienen der Steuerung von Logistik sowie Weiterverarbeitung je nach Zustand der Rohware. Obst mit runzliger Haut oder Druckstellen etwa eignet sich zwar nicht mehr für den Direktverkauf, aber durchaus noch für die Herstellung von Saft, Marmelade oder Fruchtmus. Bei stärkerer Schädigung bietet sich mitunter noch eine Vergärung zu Essig an.

Der Mensch nutzt verschiedene Sinne für die Beurteilung von Nahrungsmitteln. Daran orientieren sich die technischen Sensorsysteme. Neben Gassensoren, die wie unsere Nase verderbnistypische Substanzen erfassen, kommen optische Sensoren zum Einsatz, die Form, Farbe, Größe und Beschaffenheit der Ware erkennen. Diese Multisensorik wird anschließend dem jeweiligen Lebensmittel angepasst. Getreu dem Motto „Small Data statt Big Data“ werden für ein spezifisches Produkt möglichst wenige, aber verlässliche Parameter identifiziert, gerade auch mit Blick auf die Nachhaltigkeit in der Digitalisierung, die ebenso wichtig in resilienten Systemen ist. Die Sensortechnik soll gezielt an entscheidenden Stellen der Wertschöpfungskette eingesetzt werden, etwa am Eingang der Rohware und vor bestimmten Verarbeitungsschritten statt auf jeder Verpackung eines Endprodukts oder gar im heimischen Kühlschrank.

Eine sensorbasierte Lebensmittelüberwachung vom Rohstoff bis zum Endprodukt wäre zwar wünschenswert, ist aber kaum umsetzbar. Zum einen beruht die Sensortechnik auf den in vielen Branchen bereits knappen Mikrochips, zum anderen gibt es für viele Parameter, die den Zustand eines Nahrungsmittels beschreiben, noch keine passenden Sensoren. Als Alternative entwickelt das Fraunhofer IVV in Kooperation mit anderen Fraunhofer-Einrichtungen ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Lebensmittelmonitoring. Dafür fließen die wichtigsten chemischen, physikalischen und biologischen Prozesse sowie Kenndaten eines Lebensmittels in ein Computermodell ein. So entsteht ein digitaler Zwilling, mit dem sich Qualitätsänderungen virtuell bis auf den Teller des Konsumenten verfolgen lassen.

Sichere Produktion: Reinigungsroboter und Hygienic Design

Moderne Sensoren helfen auch bei der Überwachung der Hygiene von Produktionsanlagen. So wurde am Fraunhofer IVV ein optisches Sensorsystem entwickelt, das Fette, Proteine und andere Lebensmittelspuren auf Oberflächen mit UV-Licht nachweist. Die Rückstände bilden einen Nährboden für unerwünschte Mikroorganismen und sind als Kreuzkontaminationen eine Gefahr für die Lebensmittelsicherheit. Ein am Fraunhofer IVV entwickelter mobiler Reinigungsroboter erkennt solche Verschmutzungen in Produktionsräumen sowie Anlagen und entfernt sie gezielt. Seine Sensorik ist so ausgefeilt, das er sogar den Verschmutzungsgrad erkennt und die Wasser- sowie Putzmittelmenge anpasst.

Die Ingenieurinnen und Ingenieure vom Fraunhofer IVV sind zugleich Expertinnen und Experten für Hygienic Design. Sie gestalten Anlagen und Komponenten so, dass sie weniger anfällig gegenüber Verschmutzungen und im Störfall leicht zu reinigen sind. Hygienic Design vereinfacht darüber hinaus die Anlagenreinigung nach einer Rohstoff- oder Rezepturumstellung. In diesem Fall müssen Kreuzkontaminationen ausgeschlossen werden. Aktuell sind viele Produktionsanlagen hochspezialisiert. Es wird aber bereits mehr Flexibilität gefordert, denn Betriebe sind resilienter, wenn sie verschiedene Rohstoffe je nach Verfügbarkeit verarbeiten können.

Mit Digitalisierung den Fachkräftemangel ausgleichen

Nutzerfreundliches Interface durch Mensch-Maschine-Dialog zur schnellen Problemerfassung und Problemlösung
Benutzerfreundliche Bedieneroberfläche zur Behebung von Störungen.

In der produzierenden Industrie hängt die Effizienz einer Verarbeitungsmaschine entscheidend von den Erfahrungen derer ab, die sie bedienen. Der Fachkräftemangel und häufig wechselndes Personal stellen auch die Ernährungswirtschaft vor eine Herausforderung. Um sie zu meistern, entwickelt das Fraunhofer IVV selbstlernende Bediener-Assistenzsysteme, in die erfahrene Mitarbeiter ihr Wissen digital einspeisen, etwa zu Störfällen und deren Behebung. Die Assistenzsysteme kombinieren menschliches Know-how und maschinelles Lernen. Bei Problemen können sie Mitarbeitern mit weniger Erfahrung detaillierte Lösungen vorschlagen.

Ob digitale Assistenten, moderne Sensortechnik oder Unterstützung regionaler Erzeuger: Eine resilientere Lebensmittelversorgung erfordert sowohl ein Umdenken etablierter Strukturen als auch neue Technologien. Am Fraunhofer IVV laufen die Fäden zusammen.